Ein kleiner Ort im Piemont, Anfang des 20.Jahrhunderts. Giulia, Anita und Pietro sind seit der Kindheit beste Freunde. Sie teilen Freud und Leid eines arbeitsreichen und kargen Lebens. Als sie 20 Jahre alt sind, sieht Giulia sich veranlasst, von einem Moment zum anderen zu Verschwinden, ohne sich zu Verabschieden, ohne ein Zeichen zu lassen. Sie schifft sich nach New York ein und lässt ihre Vergangenheit hinter sich, bis sie 1946 zusammen mit ihrem Sohn zum 1.Mal wieder in ihrem Heimatort ist. Über die Jahre in Italien erfährt der Leser, indem er in Anitas Familie die Menschen von vier Generationen begleitet: in der Landwirtschaft, bei der Hausarbeit, in der Fabrik, in den zwei Kriegen, im politischen Agieren, unter Partisanen, in ihren Beziehungen, ihren Sehnsüchten, Lieben, und in ihrem Verzweifeln. In New York lebt Giulia mit Mann, Sohn und Enkeln, hat erst einen, dann weitere Lebensmittelläden in Little Italy unter den Einwanderern und in anderen Stadtvierteln. Sie erlebt Vorurteile und wirtschaftlichen Aufstieg und vermisst die Freundin Anita, die immer die richtigen Fragen stellte. Ob sie sie nun, nach fast 50 Jahren, wiederfinden wird? Und mit ihr den inneren Frieden, nach dem sie sich sehnt? Raffaella Romagnola beschreibt das Fühlen und Handeln der Menschen so anschaulich, dass ich mich ihnen sehr nah fühlte und in ihr Erleben in diesen düsteren Jahrzehnten hineinversetzt wurde. Ein Roman, wie ich ihn mir sprachlich und inhaltlich besser nicht erträumen könnte!
Am Samstag fahren wir in zwei Stunden, mit drei Zügen und viel Glück nach Ovada. Glück, weil die Umsteigezeiten sehr knapp sind und sich bereits geschlossene Türen noch einmal für uns öffnen. Damit hat unser B & B-Vermieter Antonio wohl nicht gerechnet: Als wir in Ovada vor dem geschlossenen Tor stehen und ihn anrufen, sitzt er gerade beim Mittagessen, das wir ihn gerne noch beenden lassen, und dann kommt er auch schon mit dem Fahrrad.
Hinter dem Tor öffnet sich die verwunschene, verspielte, originelle Welt des ›La Corte‹: ein amüsantes Nebeneinander echter Antiquitäten, neuer, auf alt gemachter Gegenstände und Modernem à la Pollock. Nach drei Schlüsseln und zwei Treppen stehen wir im Frühstücksraum, und gleich von dort geht es in unser Reich: Flur, Bad und Schlafzimmer. An der Zimmerdecke, auf den Nachttischdeckchen, den Schranktüren und auf Gemälden finden sich Weintrauben und -ranken aller Größen. Köstlich! Auf dem Schrank ein Fasan – aus bemaltem Sperrholz.
Beim Blick aus dem Fenster weiß man gleich, dass das Haus im mittelalterlichen Stadtkern liegt. Und zwar in der längsten, wichtigsten Straße, in der sich durchaus moderne Geschäfte finden.
»Wir schlendern durch die Gassen, sitzen am Hauptplatz neben alten Damen auf der Bank, und ich freue mich, dass der Platz so heißt wie die Mutter von Giulia aus dem Roman Bella Ciao. Nicht nur das! Ich entdecke auch ein Straßenschild mit dem Namen ›Borgo di Dentro‹ – dem Namen, den Raffaella Romagnolo dem Ort Ovada im Roman gab.
Wir trinken den besten Espresso Macchiato aller Zeiten in guter Gesellschaft kleiner Leckerbissen, spazieren zu den beiden Ovada umfließenden Flüssen und fragen uns, wo wohl das Haus der Familie Leone aus dem Roman lag.«
»Am Sonntagmorgen erwartet uns ein liebevoll gerichteter Frühstückstisch, und es gibt nette kleine Unterhaltungen. Aber die wirklichen Gespräche haben wir dann mit Raffaella und ihrem Mann. Es ist sofort ein herzliches und offenes Miteinander und eine schöne Voraussetzung, dass wir zwei uns schon kurz beim italienischen Literaturfest in München kennengelernt hatten.
Raffaella führt uns durch das Dorf, in dem es an diesem Sonntag einen weitläufigen Antiquitätenmarkt gibt. Wir erfahren, an welchem Platz das Haus von Giulia und ihrer Mutter stand, wie es ausgesehen haben könnte. Wo Giulias Weg zur Fabrik war, bei dem sie immer am Haus der Fabrikbesitzerfamilie Salvi vorbeikam. Durch welche Straße sie 1946 wieder ihren Heimatort betreten hat und auf der Seite welchen Flusses die Casa Leone und unweit davon das Anwesen der Marchesina lagen. Acht Jahre lang hat Raffaella über die Geschichte und den Ort recherchiert, um dann in zwei Jahren den Roman zu schreiben, der mich so bezaubert hat!«
»Nach einem Cappuccino fahren uns Raffaella und ihr Mann zu dem geschichtsträchtigsten Ort des Romans: der Benedicta. Wir durchfahren kleine Orte, viele mit einem alten Castello, vorbei an Weinstöcken und Maisfeldern. Dann tauchen wir auf kurvenreicher Straße ein in ein Meer von dicht bewaldeten Hügeln, sie scheinen undurchdringlich, ein ideales Versteck für die Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Dass sie trotzdem in einer großangelegten Aktion aufgespürt wurden und nahe der Benedicta, dem Hauptquartier, ungefähr 100 junge Männer erschossen wurden, erzählt Raffaella in ihrem Roman, und hier erzählen es auch die Erinnerungstafeln. Sie lassen uns vorübergehend verstummen.«
»Der Rückweg führt uns an die Grenze zu Ligurien und wieder nach Ovada, wo Raffaella mir noch drei Bella Ciao signiert, die ich mitgebracht habe, damit wir sie an Kunden verlosen können. Die Abschiedsumarmung beim Auto geht schnell, plötzlich ist vorbei, worauf ich mich so lange gefreut habe. Aber nach fast sieben Stunden fangen die italienischen Sätze auch an, sich im Hirn zu verknoten, und wir können alle eine Pause brauchen.«
»Wir sind nun allein im ruhigen La Corte, durchstreifen nochmals die alten Straßen, in denen die Händler nun ihre Sachen packen, und auch hier zieht Ruhe ein.
Am Montag ziehen wir früh los für den Fall, dass wir einen Zuganschluss nicht erreichen. Doch die Bahnen sind pünktlich, wir durchfahren die piemontesische Landschaft gen Turin und hängen unseren Gedanken nach.
Im Flugzeug fange ich dann schon an, in Gedanken dem Diogenes Verlag zu schreiben: über die intensiven Eindrücke, Bilder, Sätze, Gefühle, den Reichtum an Erlebtem mit dem allergrößten Dank für das Geschenk dieser Reise!«