Tobi Dahmen (*1971) erzählt in Columbusstraße vom Leben seines Vaters, dessen Geschwister und Eltern im Nationalsozialismus.
Frei von der Frage nach Schuld oder Nichtschuld trägt Dahmen Fakten zusammen und schafft einen wichtigen Baustein im Gefüge des Ganzen. Die Details dieser persönlichen Familiengeschichte bringen Jugendlichen und Erwachsenen Zeitgeschichte nahe, die nicht in Vergessenheit geraten darf.
Als viertes und letztes Kind wird Dahmens Großvater Karl-Leo 1932 in eine gutbürgliche, liberale Anwaltsfamilie hineingeboren. Ihr Wohnsitz, die Columbusstraße, liegt in Düsseldorf. Entlang vieler Dokumente und Briefwechsel, allen voran zahlreicher Feldpostbriefe der älteren Brüder zeichnet Dahmen ein deutsches Lebens- und Stimmungsbild.
Dicht, intensiv und klar ist die Graphic Novel in seinen Handlungsorten, die durch das ganze Großdeutsche Reich von Schlesien bis Villingen sowie an die Ostfront führen, ebenso wie in seinen zahlreichen Figuren, die uns bei jedem Szenenwechsel unvergessen vor Augen stehen bleiben, strukturiert. Variantenreich über die gesamte weiß- grau-schwarz Palette, vom skizzenhaften Karicartoonstrich über Bildmontagen und detailgenau gezeichneten Gebäude, Plätze und Straßenzüge wird das Auge durch unterschiedlichste Episoden und Erlebnisse geführt. Für die Wucht der Zerstörung an Kriegsschauplätzen und die Verletzung wie Auslöschung vieler Leben, findet Dahmen eine sich über 500 Seiten steigernde Bildsprache, die das Buch zu einer Lektüre macht, die man nicht zur Seite legen kann.
Der älteste Bruder, Eberhard, auf dem nach seinem gutem Abitur alle Hoffnungen liegen, wird vom Studium weg zur Front rekrutiert, ebenso wie Peter, der Zweite, der sich noch vor seinem Schulabschluss mit 16 Jahren freiwillig meldet. Beide sind an der Ostfront stationiert und wir erleben den Krieg und die Strategien der Wehrmacht anhand ihres Schriftverkehrs mit der Familie. Wir werden hineingerissen in die Gewalt des Krieges. Diese jungen Männer wurden zur Bedienung von Waffen befähigt und haben diese auch benutzt. Das grauenhafte Leben an der Front wird ihnen mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit. Am Ende sprechen Peters geistige Flucht in die Natur, seine intensive Ausführungen zum Blumen, seine Worthülsen, die in diesem aussichtslosen Kampf kaum noch Sinn ergeben, an die er sich aber klammert, ihre eigene Sprache. Als er in amerikanische Kriegsgefangenschaft kommt ist er 22 Jahre alt.
An der zivilen Front erlebt die Bevölkerung die Bombardierungen Düsseldorfs, ein Leben in Luftschutzkellern, im Feuersturm. Den "totalen Krieg" im Anblick der totalen Zerstörung. Dahmen hat intensiv über die Familiengeschichte hinaus recherchiert und schafft ein beeindruckendes Zeitbild an allen Fronten. Alle Menschen sind Teil dieses Krieges, ob sie wollen oder nicht.
Der Grundschüler Karl-Leo, Dahmens Großvater, wird von seinen Eltern mehrfach aus der Gefahrenzone aufs Land verschickt. Zuletzt in eine katholische Familie, die ihn wie ihren eigenen Sohn aufnimmt und versorgt, bis sein Ziehvater Ewald Huth, der seine Kritik am Regime laut ausspricht, selbst Opfer der Nazis wird. Am Ende des Krieges wird sich Karl-Leo mit 13 Jahren allein nach Hause durchschlagen. Sein Vater wird von den Amerikaner in die Übergangsregierung berufen.
Ein zweiter Handlungsstrang erzählt die Familiengeschichte der Funckes, der großmütterlichen Seite, vermutlich. Binkas Vater, ein erfolgreicher Schraubenfabrikant in Schlesien, muss auf Waffenproduktion umrüsten und wird zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Er sträubt sich nicht. All die ambivalenten Situationen in dieser Familie führt Dahmen sachlich aus. Wir können uns selbst ein Urteil bilden, über Möglichkeiten, verpasste Chancen, zu spätes Erwachen und vieles mehr.
Fakt bleibt: Kinder von damals haben viel schreckliches erlebt, was Kinder von heute nicht erleben sollten. In Belgien, Dahmens heutigem Wohnort, wird der 8. Mai mit einer zweiminütigen Schweigeminute begannen. Hier sehen wir, ganz gegenwärtig, Tobi Dahmen mit seiner vierjährigen Tochter auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen. Das Gespräch zwischen Vater und Tochter könnte umwerfender nicht sein.
Ein gelungens Werk, das uns einmal mehr vor Augen führt: Krieg ist keine Option.