Unsere erste Graphic Novel Lesung war so gut. Ein wahrer Krimi in irrer Sommerhitze. Der Sound war mega.
Hölle. Für Dennis lässt sich gerade jede Lebenssituation in einem Wort auf den Punkt bringen. Sein Lebensgefühl trägt er auf T-Shirts mit Schriftzügen von Metalbands zur Schau. Raining Blood von den Slayers klingt in Endlosschleife aus seinem Handy, Radio oder Mund. Unverkennbar ist der brave Junge in die Pubertät gekommen. Seine Eltern, damals als vietnamesische Vertragsarbeiter in die DDR gezogen, leben noch heute nach der Devise Ohne Fleiß keinen Preis. Ihren Vorstellungen von schulischen Höchstleistungen kann er sich nicht entziehen. Seine kleine Schwester Tâm hat es faustdick hinter den Ohren. Eine Woche tauchen wir in das Leben der Geschwister ein.
Mit ihren neuen Inlineskater beschädigt Tâm am Wochenende einen Van und macht Bekanntschaft mit der darin sitzenden jungen Vietnamesin Hoa Minh. Dennis´ ebenfalls gerade auf dem polnischen Markt erstandenes Hackbeil für Vaters Imbiss wechselt zu Hoa Minh und ausgerechnet daheim, in Berlin Lichtenberg, taucht am nächsten Tag ein abgehackter Finger und Hoa Minhs Rucksack auf. Alex, ein Junge aus Tâms Schule, hat den Wurf aus dem Fenster eines Wagens mit seiner Drohne beobachtet.
Ross inszeniert punktgenau und liebt das gemischte Doppel. Alex verbringt seine Zeit mit Jutta, einer Laubenpieperin, die ihn an seine Rolle als kommender James Bond heranführt. Beide verbindet die Einsamkeit. Dennis kämpft mit der Rockerbraut Marina, die ein Auge auf ihn geworfen hat. T-Shirts machen noch lange keinen Heavy Metal Typen. Beide haben ihre hilfsbereiten Seiten. Zwischen Hoa Minh, der Tam helfen möchte, und Tâm entwickelt sich ein berührendes Band, das Tâm vom Kindsein in den nächsten Lebensabschnitt katapultieren wird. Auch für Boris, dem Schlepper im Mädchenhandel, hält Ross ein Gegenstück bereit.
Ein Lebenskrimi ersten Ranges. Ross zieht alle Register, die flirrenden Lebensmomente und Touchées einzufangen. Seine Bilder stehen in der Sommerhitze und brennen sich in Augenblicken größter sportlicher Eleganz in unsere Netzhaut ein. Wenn Hoah Minh im zehnten Stock auf einem schmalen Sims auf Zehenspitzen an der Wand ihr Gleichgewicht sucht, die Muskeln aufs Äußerste angespannt, zum Sprung bereit, können wir den Blick nicht abwenden.
Lange Schatten und das Spiel mit scharfen Kontrasten versetzen uns in einen Film Noir. Reflexartig schlagen wir den Mantelkragen hoch, wenn nicht die Hölle sondern der Himmel seine Schleusen öffnet und der Regen in Schnüren auf den Asphalt prasselt. Er lässt den Van auf dem Parkplatz verschwinden und verwischt in einem göttlichen Moment die Plattenbauten, damit der Baum in geschliffener Schärfe hervortritt, an dem sich Tâm und Hoa Minh wiederbegegnen.
Die Verfolgungsjagd durch den Asiamarkt ist filmreif. Die Bilder rasen in einem Spiel mit Bewegungsschärfe in voller Lautstärke an unserem Auge vorbei. Die Kulisse, ebenso wie die Hans Rosenthal Grundschule, die Tâm besucht, sind Originalschauplätze in Lichtenberg.
Ross überrascht im Spiel mit seinen Motiven unablässig mit neuen Details. Im Fluchtmoment tänzelt Tâm, der die Inliner sonst an die Füße gewachsen sind, in ihren Hausschlappen mit Kaninchenohren herum. Die Kanninchen des Nachbarn pflegt sie mit Hingabe. Ans Garagentor neben den Supermarkt hat jemand ausgerechnet das Wort Hell gesprayt.
Der Titel der Graphic Novel stammt aus einem Gedicht der vietnamesischen Dichterin Hồ Xuân Hương (1772–1822). Wo in Hồ Xuân Hương eine Kämpferin mit Worten steckte, schlummert in Tâm eine Kämpferin der Taten, die sich nicht mit einem Himmelsspiegelbild in Pfützen zufrieden geben wird. Die große, bunte Welt liegt in allen Nuancen direkt vor ihrer Haustür. Ross zeigt uns ein liebenswertes Stück von ihr.
Nach seinen Auftragsarbeiten Der Umfall und Goldjunge überzeugt er in diesem eigenen Werk mit minutiös ausgearbeiteten Figuren, starken Motiven, einem rasanten Plot und einer großen Variabilität bildlichen Erzählens. Für sein Markenzeichen, die kugelrunden, das Leben in allen Lebenslagen spiegelnden Augen, findet er eine asiatische Variante, die uns ebenso kugelrund und berührend anstarrt. Vollkommen beeindruckt und begeistert folgen wir ihm in dieses traumhafte Graphic Novel Nirwana.
Ross beginnt seine Graphic Novel im 8. Lebensjahr Beethovens und begleitet ihn bis um sein 30. Lebensjahr, bis zur Veröffentlichung seiner ersten Kompositionen, die ihn als Klaviervirtuose in die fürstlichen Konzertsäle führte.
Ross wagt einen Perspektivwechsel, und erzählt aus Noels Sicht von den Tiefschlägen und Höhenflügen eines jungen Mannes mit geistiger Behinderung.