Wenn Magnus de Koning das Mädchen Dawn Rose Sheen in einer Reality Show aus der Kryokonservierung wach küsst, sind wir in einer Märchenadaption von Dornröschen des 23. Jahrhundert gelandet, die uns die Herausgeberin dieser Geschichtensammlung, Hailey Layne-Arlens, als Geschichte in der Geschichte präsentiert. In ihrer Sammlung befinden sich noch neun weitere Überlieferungen aus unserer zukünftigen Vergangenheit. In einem gläsernen Tower samt Fahrstuhl mit Konstruktionsfehler wird Novella gezwungen, in Abgeschiedenheit erwachsen zu werden. Ein Froschmann Cyborg verlangt einen Kuss für die Rettung eines Hutes und die Hexe brennt nicht im Ofen, sondern sitzt in einer Kühlkammer, von wo aus sie als Geist mit gefrorenem Verstand ihre Geschichte rekonstruiert.
In historischen Rückblicken, die bis in unsere Gegenwart reichen lässt Rahlens die Autorin Arlens ihre Märchensammlung des 24. Jahrhunderts kommentieren. Ihre Erläuterungen des historischen Kontextes bieten heutigen Lesern eine Fundgrube zukünftigen Lebens. Dafür erweitert Holly-Jane Rahlens ihre Welt des 23. Jahrhunderts, die sie bereits in ihren Future Fictions „Everlasting“ und „Blätterrauschen“ entworfen hat. In dieser Welt hat der Dark Winter des 21. Jahrhunderts die verbleibende Menschheit in High End technisierte Urbaniten und naturverbundene Forester polarisiert. Europäische Sprachen und Bücher sind weitgehend verloren gegangen und die Menschen gestalten die Wiederentdeckung und Bewahrung historischen Lebens entsprechend unterschiedlich.
Die in Zukunft überlieferten Märchen bedienen sich zahlreicher Kunstformen, kommen aus fernen Jahrhunderten als Teenie Tagebuch oder Roman, als Lied, Gedicht oder als Videoblog daher. So wie sich tradierte Geschichten in Zukunft weiterentwickeln werden, pflanzt sich auch die Autorin fort. Ihr Name steckt in fast allen Schöpferinnen dieser Geschichten. In Lily Jun Ruong, der Musterschülerin, die in einem Klassenaufsatz das Trauma ihrer Mutter und den Wolf in den Wäldern ihrer marsianischen Enklave belebt oder in Jeanette Rorely-Hallingston, deren Interviewpartnerin das echte Schneewittchen war. Nicht zuletzt finden sich Varianten in den Märchenkennerinnen Ragleig Joya Hada und Hihi Lii Roonies, welche der Autorin Arlens kenntnisreiches Material liefern. In ihrer futuristisch fiktionalen Anthologie beschäftigt sich Holly-Jane Rahlens mit den Ursprung des Erzählens und spürt dem stetigen Wandel universeller Geschichten nach. Dafür bedient sie sich einer komplexen Erzählstruktur auf zahlreichen Zeitebenen, die selbst geübten Lesern einiges abverlangt. Darunter liegt die Erkenntnis, dass die Märchen einen Stoff bergen, der gesellschaftliches Treiben und kulturelles Erbe konserviert und über Jahrhunderte hinweg, damals, heute und in Zukunft, immer wieder neu belebt und erzählt werden kann, mitfiebern lässt und nie langweilig wird. Christiane Steen hat sich der schwierigen Aufgabe angenommen das Werk Rahlens und Arlens aus dem Jahre 2312 in eine verlorene Sprache der Vergangenheit zu übertragen, was uns aus diesem Grunde wohl Zufußgehende statt Fußgänger beschert. Wer wird wohl in Zukunft das Grimmsche Wörterbuch der Zukunft verfassen?