Auf dem Cover wetteifert das schlichte Holzhaus in seiner Schönheit mit der frühsommerlichen Farbenpracht der Natur. Die mosaikverspielte Tür- und Fensterfront strahlt in der Sonne. Seine Terrasse öffnet sich einladend zum Wasser. Hier, im Grünen, möchte man wohnen. Doch die Bewohner des Hauses, eine Familie mit vier Kindern, hetzen schattengleich, gebeugt und bepackt durch das hohe Gras aus dem Bild. Die Geschichte dieses Hauses beruht auf wahren Begebenheiten. Vor den Toren Berlins, am Groß Glienicker See, bauten „ein Arzt und seine fröhliche Frau“ am Ende der Weimarer Republik ein Sommerdomizil für ihre Familie. Sie wurden von den Nationalsozialisten in die Emigration getrieben und mussten alles zurücklassen. Das Haus erlebte das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg, die DDR mit Mauerbau und Mauerfall und die Wiedervereinigung Deutschlands. Im Laufe der Zeit war es zum Wohnort mehrerer Familien geworden, die es belebten und prägten, gestalteten und vergaßen, denn Menschen richten sich in ihrer Behausung ein und leben nach den Umständen ihrer Zeit. Erst der Urenkel des Arztes, der Autor Thomas Harding, kehrte zurück und nahm das mittlerweile stark verfallene Haus in Augenschein. Harding suchte nach den Spuren seiner Bewohner und hielt die Geschichte für Erwachsene in dem erzählenden Sachbuch Sommerhaus am See fest. Mit Britta Teckentrup zusammen gestaltete er daraus nun auch ein Bilderbuch für Kinder. Autor und Illustratorin gelingt es, den historischen Raum mit minimalem Textaufwand und stimmiger Tages- und Jahreszeitenwahl in ein sensitives Leseerlebnis zu verwandeln. Die unterschiedliche Farbgebung, Sonne und Schnee vermitteln ganz ohne weiteres Zusatzwissen das Lebensgefühl in den verschiedenen Epochen in denen der Arzt und seine Familie, eine musikalische Familie, ein Paar aus der Stadt, ein Mann mit Fellmütze und ein junger Mann die Geschicke des Hauses lenkten. Das Haus spricht über den Wind, der durch den Kamin fegt, das Glitzern des Sonnenlichtes auf seinen Scheiben, aber auch über das Scheppern des Inventars durch Panzerketten zu seinen Betrachtern. Auch wenn es im Mittelpunkt des Buches steht, Glücksort war und Schutzraum bot, sind es stets die Menschen, die den Wandel bewirken. Harding versieht sie mit bildhaften Attributen statt politischen Wertungen. Sie hauchen dem Haus ihr Leben und ihre Liebe ein. Oder sie zerstören den Ort durch Ummauerung – die Berliner Mauer trennte das Haus Jahrzehnte vom See – und durch ihr Vergessen. Doch das Haus hält stand und vergisst nicht. Das Leben der Menschen findet sich in sich in seinen Wänden hinter den Schichten der Tapete wieder oder im Mobiliar. Wenn Harding und die Bewohner des Ortes dem Haus am See wieder neuen Glanz verleihen, wird der Wandel, der in allen Zeiten zum Leben gehört, unmittelbar greifbar. Eine Fotografie der Urgroßeltern findet auf dem alten Kaminsims einen neuen Platz und schließt als Bild im Bild den Erzählbogen. Dieses kunstfertig verwobene Bilderbuch hat viele Schichten und viel zu erzählen. Es bietet einen sensiblen, ersten Einstieg in unsere Zeitgeschichte und erzählt poetisch vom Vergehen der Zeit, den Leben der Menschen in ihr, der Wichtigkeit des Zurückblickens und des Erinnerns, aber vor allem vom Glück des Bewahrens.
Das Alexanderhaus in Berlin ist heute eine Begegnungsstätte und kann besichtigt werden. Foto: Alexander Haus Archive/ André Wagner