Die Infantin ist ein Bauernkind. Adlers Ich-Erzählerin, die im Laufe des Romans zur jungen Frau heranwachsen und selbst zur Mutter werden wird, hat es faustdick hinter den Ohren. Sie ist aufgeschlossen, hemmungslos, freiheitsliebend und rachewütig. Aber auch zart, anhänglich, liebesuchend und schuldempfänglich. Schauplatz ist das urgroßväterliche Anwesen, ein alter Bauernhof oberhalb des Dorfes, am Berg gelegen. „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.“ lautet die Regieanweisung vor dem ersten Kapitel.
In dunkler Stube sieht man die drei Mädchen, ihre Eltern und Urgroßeltern sitzen, die abgearbeiteten Hände zum Beten gefaltet. Draußen tobt naturgewaltig ein Unwetter. Unbemerkt wird sich die Jüngste mit einer Kerze in den Stall stehlen, um sich im Stroh an den Hunden zu wärmen und dabei den Stall in Brand setzen. Doch Adler lässt nichts anbrennen. Sie erzählt wie im Rausch, einem visuell, akustisch und olfaktorisch überbordenden Videoclip der 80er Jahre gleich, welchen sie mit doppelter Geschwindigkeit durch den Projektor schießen lässt. Das nackte Leben der Infantin in Hof und Dorf breitet sich in rasanten Assoziationsketten und temporeichen Wechseln der Sichtachsen, dem „Ich“ aber auch dem „Du“, mit dem die Erzählerin die Mutter und ihren heimlichen Verbündeten, den Urgroßvater anspricht, vor dem Auge aus. Man lebt im engen Miteinander von Mensch und Tier. Das Kind sieht den Tod eines Tieres ebenso selbstverständlich wie die gegenseitige Tyrannei. Häufig wird es sich Selbstüberlassen. Dies und der regelmäßige Kirchgang der Mutter, die gehässigen Schwestern, speist die mannigfaltigen Fantasmen des Kindes und lässt sie zur Räubertochter, zur Piratenbraut, zum wilden Springteufel mutieren. Wenn sie ihren raumgreifenden, kraftstrotzenden Vater ins Visier nimmt, auf dessen Schultern sie dem Christkindlmarkt entgegenwogt, blitzen kurze Momente des Glücks und der Geborgenheit auf. Kurze Zeit später ist er wieder der versoffene Grobian und tumbe Tor.
Die Figuren wandeln sich mit einem Wimpernschlag von Bruegel zu Bosch: rotzig, derb, dialektal, schalkhaft. Doch Adler justiert psychologisch feinsinnig und entfacht ein Höllenfeuer in dem alle Figuren in genußvoll zelebriertem Schmerz brutzeln. Und nichts ist süßer als die Schadenfreude und ein anzunehmender Triumph. So lässt Adler das Kind wie Rumpelstilzchen Stroh zu Gold spinnen. Wenn die Königstochter ihr erstes Kind bekommt, haben Verlust und Liebe eine Sprache gefunden. Ein Roman, der in seiner schmalen Form und seinem handlichen, schön edierten Format einen bildgewaltigen Kosmos öffnet und die Aufmerksamkeit des genauen Schauens, Lesens und Wiederlesens fordert. Einfach fantastisch.