Molly MacCarthy gehört zu den Schriftstellerinnen der Bloomsbury Group, dem berühmten Intellektuellenkreis um Virginia und Leonard Woolf. Mit ihrer Erzählung „Kleine Fliegen der Gewissheit“, erstmals erschienen 1924, tauchen wir in Form eines Erinnerungstextes in ihre viktorianische Kindheit ein. Geboren als sechstes von sieben Kindern schildert sie ihr behütetes, ländliches Aufwachsen zwischen üppigen Gartenanlagen, ebenso üppiger Dienerschaft und Privatunterricht. Darin das beständige Ringen des Vaters um Geld. Das familiäre Wirtschaftsbuch „Le grand livre“ führt zu zahlreichen Auseinandersetzungen der Eltern und bescherte allen ein Leben zwischen Fasten und Prassen. Bis in die späten Jahre, wenn die Schwestern im mondänen London ausgedehnten Shoppingtouren frönen, ist es in Gedanken mit dabei.
Eine erste prägende Trennung vom Elternhaus kommt für das junge Mädchen mit dem Besuch des Internats, einer Klosterschule. MacCarthys bildliche Schilderungen dieses frostigen Gemäuers, in dem winters nur die Kirche angenehme Wärme ausstrahlt, mit einem Schlafsaal voller Mädchen, geplagt von Heimweh und laufenden Nasen, bringen uns die kindliche Faszination religiöser Bräuche und die Erlösung durch festen Glauben zum Greifen nah.
Das Jugendalter verbringt MacCarthy wieder mit Privatunterricht im Schoß der Familie auf dem Universitätsgelände Etons, wo ihr Vater als Vize Schulleiter lehrt. Auch wenn Ortswechsel nach wie vor mit unzähligen Koffern und Personal angetreten werden, ist es von hier aus nur ein Katzensprung in das 25km entfernte London, zu Tanztees und Bällen, zur Einführung der jungen Damen in die Londoner Gesellschaft.
Der spielerische Wechsel zwischen einem erzählenden Ich und erinnerten Bildern, bei denen wir Molly mit Abstand betrachen, darüber hinaus die Einmischung der erwachsenen Autorin in ihre eigenen Worte, erzeugen mitreißende Lebendigkeit und eine bewegte Atmosphäre, die dem kindlichen und jugendlichen Wesen wie auf den Leib geschneidert ist.
Der AvivA Verlag hat das MacCarthys Memoir mit einem Vorwort von Tobias Schwartz, einem Essay von Virginia Woolf und einigen Fotografien umrahmt. Auch wenn wir mit dem Tod Königin Victorias am Horizont die Veränderungen der Moderne erahnen, so halten wir hier eine sorgsam und schön gestaltete Einladung zum Innehalten in unseren Händen. Ein träumerischer Rückblick, den ich in vollen Zügen genoßen habe.