Mitunter fällt mir Lektüre in die Hand, bei der ich „nur mal gucken“ möchte und dann lese ich plötzlich ein ganzes Buch zu einem Thema das nicht gerade auf der Straße liegt.
Nikolas flieht von seinem Geburtsort am Alpenrand nach Berlin und nimmt eine Stelle als Pflegekraft an. Die Wohngruppe liegt vom Leben abgeschieden am Stadtrand. Karl, Barbara, Johannes, Maria und Stefan sind Menschen mit geistigen Behinderungen. Oder sagt man Beeinträchtigungen? People with special needs auf jeden Fall. Willkürlich sind die fünf erwachsenen Menschen in die Wohngruppe zusammengewürfelt worden. Menschen, die nicht für sich selbst entscheiden dürfen oder können, wo und wie sie leben, deren Bedürfnisse normal wie speziell sind, aber vor allem: deren Bedürfnisse sich regelmäßig gegenseitig ausschließen. Nikolas führt uns, eloquent erzählend, pragmatisch, amüsant, sachlich und immer berührend bildhaft, in seinen neuen Arbeitsalltag ein. Sein inklusiver, sensibler Wortschatz hält selten die richtigen Bezeichnungen bereit. Wir geraten mit ihm in einen Ausflug über das Wort „Idiot“ und sehen wie die klinische Diagnose dem Leben die Bahn aufzwingt. Wir drehen uns in der Gruppe im Kreis, täglich konfrontiert mit Unlösbarkeiten, die aber gelöst werden müssen. Wieso sagt Nikolas eigentlich immer „auf der Gruppe“ und nicht „in der Gruppe“. Ein Rätsel, das wir selber lösen dürfen.
Nikolas, alter Ego Frédéric Valins, arbeitet mit Überzeugung, einem guten Herzgefühl für Menschen und kündigt seine Arbeitsstelle acht Jahre später in Corona Times, weil Gesetze und Regelwerke nicht nur wie Wände, eher wie Brandschutzmauern stehen und keinen menschlichen Raum zum Arbeiten, Denken und Leben geben. Wie es in Deutschland um die Pflege bestellt ist, kann man in diesem „Sachroman“ hautnah verfolgen. Eine bewegende Lektüre, die paradoxerweise auch sehr nüchtern aufklärt, Welten öffnet und eine ganze Weile nachhallt.