Tessin, Luganersee, Februar 1962: Ein neuer Gast wird im Deutschen Haus in Agra aufgenommen. Ein Dichter. Das am Hang gelegene Sanatorium mit malerischem Blick auf die Hügel des Colina d´Oro und den See, ist eine Lungenheilanstalt mit Flair des Zauberberges. Hier soll der Gast seine Krankheit auskurieren. Der 62-Jährige blickt in sein letztes Lebensjahrzehnt. Sein Name ist Erich Kästner.
Das Leben des Patienten gerät an diesem Ort in eine Ruhephase. An den strengen Regularien des Kuraufenthaltes weiß sich Kästner vorbeizumogeln. Der verbotene Whisky, den er hier versteckt aus der Teetasse trinkt, ist schon lange seine Medizin und auch das Rauchen wird er nicht einstellen. Ein Fakt.
Das medizinische Oberhaupt ist für den Patienten eine starke Autoritätsperson, die ihm Pflicht und Gehorsam abverlangt. Nur ihm spricht Kästner die Kompetenz zu, seinen Widerstand zu durchleuchten. Hier kristallisiert sich seine Angst. In Liegekuren und Wannenbädern, abgeschlossen von der Außenwelt, kommt ihm nicht zufällig ein schwarzer Panther ins Visier, der, Rilke sei Dank, ein Gefühl von Handlungsunfähigkeit und Einsamkeit verstärkt. Eine treffliche Fiktion.
Roller destilliert die Romanfigur Kästners aus einer gelungenen Mischung von Fakten und Fiktionen. Die kurze Episode aus seinem Leben erzählt er pointiert, schlicht und schlüssig in einer Vertrautheit zu Kästners Sprachstil. Seine fiktionalen Gedanken basieren in geschicktem Spiel auf Kästners Leben und Werk und weiterer Literatur.
Roller lenkt den Blick auf das Flüchtige und offenbart das Verborgene. Er lässt Kästner mit seiner Außenwirkung und Contenance, seinen depressiven Schüben, seiner Entscheidungsschwäche und seinen Schuldgefühlen ringen. Er nimmt uns mit in seine quälende Ménage à Trois, die ihn nicht daran hindert, sich in weiteren weiblichen Umgang zu verstricken. Charmant und erfolgreich umgarnt er das junge Groupie im Speisesaal, so dass die Richtersgattin und Anstandsdame an seinem Tisch vehement interveniert. Mitunter geht dem Tuberkulosekranken dabei “buchstäblich die Luft aus, und mit ihr verschwinden auch die Worte, bevor er sie zu Papier gebracht hat.“
Wieder bei Atem nimmt der Schriftsteller die Worte des Mädchens auf: „Ach könnte ich…“. Sie bringen ein defensives Leben auf den Punkt. Der Lyriker und Feuilletonist, berühmte Kinderbuchautor und nicht zuletzt in seiner Literatur gefeierte Moralist ist nicht im Stande, sich selbst zu genügen. Auch im Beziehungskampf mit den Frauen zeichnet Roller letztendlich einen unterlegenen Eigenbrötler. Die Aufmerksamkeit des Mädchens hellt seinen Gemütszustand auf. Im Gegensatz zu ihm wird die junge, von seiner Lyrik beseelte Leseratte aktiv Freiheit gewinnen, indem sie am Ende die Verse des Autors von seiner Person trennt und mit starkem Eigensinn für sich selbst auslegt. Roller lässt hier dem Zauber der Worte, dem Vermächtnis Kästners, eine interessanten Spielraum.
In seinem Debüt gelingt Roller ein literarisch überzeugendes Kammerspiel. Er macht Lust, die hier gebotenen Fakten und Fiktionen zu entschlüsseln, und dabei Kästners Leben, seine Verse und Worte erneut in Augenschein zu nehmen.
Hoch soll er leben! 125 Geburtstagskerzen für Erich Kästner. In unseren Köpfen und Lesebiografien ist er lebendig wie kaum ein anderer Schriftsteller.